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HAUS
DER RELIGIONEN

Rede von Frau Bundeskanzlerin
Annemarie Huber-Hotz zum Fest der Religionen und Kulturen
vom Sonntag, 2. Juni 2002
Liebe Festgemeinde
Feste feiern ist ein Grundbedürfnis des Menschen, ein Bedürfnis,
das sich nicht auf eine bestimmte Zeit, auf bestimmte Länder, Kulturen
oder Religionen beschränkt. Es ist ein ganz und gar universales Bedürfnis,
das allen Menschen gemein ist und sie miteinander verbindet. Im Fest lassen
wir die Schwere unseres Alltags hinter uns, es zählt weder Geld,
Macht oder sonst etwas, es zählt nur der Mensch in der Hochgestimmtheit
seiner Seele. Das aber ist die beste Voraussetzung für gute und fruchtbare
Begegnung.

Ich beglückwünsche
die Organisatorinnen und Organisatoren deshalb dazu, dass sie den Aufbruch
zu einem gemeinsamen Haus der Religionen mit einem mehrtägigen Fest
feiern. Mit einem Fest, das erglänzt in der prächtigen Vielfarbigkeit
der verschiedenen Religionen, Lebensanschauungen und Kulturen, ein Fest,
in dem Anders-Sein, Anders-Denken, Anders-Leben nicht als trennende Differenz,
sondern als Reichtum erscheint.
Im Zentrum des heutigen
Festaktes steht der Grundstein dieses gemeinsamen Hauses. Das Programm
bezeichnet ihn vorsichtig als einen "symbolischen Grundstein".
Die Vorsicht scheint gerechtfertigt, denn was soll ein Grundstein ohne
Grundstück?! Ich kenne keinen schöneren oder gehaltvolleren
Grundstein, und es bewegt mich, bei dieser Grundsteinlegung dabei sein
zu dürfen. Es ist ein Grundstein, der sich zusammensetzt aus vielen
Steinen, in die die Gedanken unterschiedlichster Menschen zur Versöhnung
und Begegnung eingeschrieben sind und die zusammen das Wort FRIEDE bilden.
Schwer zu lesen, weil Friede nicht auf dem Silbertablett serviert wird,
sondern in unerbittlich harter Arbeit aller immer wieder neu gefunden
werden muss. Einer der Steine trägt eine Geschichte von Franz Hohler:
Die Flucht
Die Taube flog über das Kriegsgebiet und wurde vom Rotorblatt eines
Kampfhelikopters zerfetzt.
Eine ihrer schönen weissen Federn schwebte in den Hof eines Hauses,
wo sie von einem Kind aufgelesen wurde.
Kurz darauf mussten die Eltern mit den Kindern flüchten.
"Wir nehmen nur das Nötigste mit", sagten sie, rafften
ein paar Kleider zusammen und stopften sie mit den Dokumenten und etwas
Geld und Schmuck in einen Koffer, der Vater füllte zwei Flaschen
mit Wasser, die Mutter packte das letzte Brot, einige Äpfel und eine
Schokolade ein.
Das Kind nahm die Feder mit.
Diese Feder ist das
Kraftloseste und Verletzbarste, das man sich denken kann, und doch ist
sie das Vitalste, vitaler als Brot und Wasser, weil sie als Hoffnung,
als Utopie über den Tag hinausweist.
Der Grundstein ohne Grundstück ist Ausdruck für das Wesentliche:
Trotz all seiner praktischen Notwendigkeit ist nicht das gemauerte Haus
das Wichtigste, sondern der Geist, in dem es entsteht und der es einmal
erfüllen wird. Der Grundstein ohne Grundstück ist also Zeichen
einer Utopie. Zu einer Utopie zu stehen und sich für sie einzusetzen
braucht unerhört viel Mut. Nicht umsonst ist bei uns das Wort "Utopist"
eine herabsetzende Bezeichnung, denn wer für eine Utopie lebt, "erlebt"
den Erfolg seiner Mühe meist erst posthum.
Für die Utopie, in deren Geist das Haus der Religionen entsteht,
ist die Schweiz allerdings kein schlechter Boden. Wir nennen unser Land
eine Willensnation, weil Gemeinschaften verschiedener Kulturen und Sprachen
ihre Verschiedenheit nicht als etwas Trennendes, sondern als eine Chance
verstanden und gemeinsam das Haus Schweiz gebaut haben. Sicher ist nicht
alles perfekt an der Schweiz. Aber insgesamt ist die Geschichte vom Zusammengehen
unserer vier Sprach- und Kulturgemeinschaften eine echte Erfolgsstory.

Worin liegt das Geheimnis
dieses Erfolgs? Ich glaube, es liegt darin, dass wir immer versucht haben,
nach dem Grundsatz zu leben:
"C'est les bons comptes qui font les bons amis."
Dieser Satz stammt aus dem Handel. Er sagt, dass eine Handelsbeziehung
erfolgreich ist, wenn die Rechnung für alle Beteiligten aufgeht.
Geht die Rechnung nämlich auf, so werden aus Partnern, die nur geschäftlich
miteinander verbunden sind, sogar Freunde.
Dieser Satz gilt uneingeschränkt auch für das Zusammenleben
verschiedener Gemeinschaften und Kulturen in einem Staat.
Was steckt in diesem
Grundsatz? Wie können wir ihn auch im Strudel der Globalisierung
und der weltweiten Migration wirksam erhalten?
Dazu nur zwei Stichwörter:
Respekt und Partnerschaft
Respekt
Wir neigen dazu, das, was uns vertraut ist, zum Massstab zu machen und
Alternativen nicht gelten zu lassen. Das ist gerade dort am intensivsten,
wo unser Innerstes betroffen ist, in der Religion. Wie viele Kriege sind
Religionskriege! Dabei wissen wir nur allzu gut, dass das Bild, das wir
uns von Gott dem Unendlichen machen, völlig begrenzt ist durch unsere
sehr endliche Erkenntnisfähigkeit. Das sollte uns bescheiden machen
und uns davor hüten, die eigene Religion als die einzig wahre zu
verstehen. Religionen sind nur unterschiedliche Wege der Gottsuche.
Unsere Verfassung beginnt mit den Worten "Im Namen Gottes, des Allmächtigen".
Sie will damit sagen, dass neben dem Menschen und dem Staat eine höhere
Macht existiert. Diese Macht darf nicht nur im christlichen Sinn verstanden
werden; der Staat darf keine bestimmte Glaubensüberzeugung für
verbindlich erklären.
Das Haus der Religionen ist unter anderem deshalb so wichtig, weil es
diesem Verfassungsgedanken, der die grundsätzliche Gleichberechtigung
der Religionen will, konkrete, anfassbare und beispielhafte Gestalt gibt.
"C'est les bons comptes qui font les bons amis."
Die Chance, Freunde zu werden, haben nur die, die sich gegenseitig respektieren,
auch in ihrem Anders-Sein.
Partnerschaft
Der zweite Gedanke, der in diesem Dictum steckt, ist der Gedanke der Partnerschaft.
Partner sind grundsätzlich gleichberechtigt, sie begegnen sich immer
auf gleicher Augenhöhe.
Es geht also nicht darum, eine andere Kultur- oder eine andere Religionsgemeinschaft
nur zu tolerieren. Denn Toleranz ist ein asymmetrisches Verhältnis.
In seinem jüngsten Buch "Nicht-optimale Strategien" analysiert
Hans Saner diese Asymmetrie ganz genau: "Man toleriert von der Mehrheit
zur Minderheit, immer vom Überlegenen zum Unterlegenen, vom Mächtigen
zum weniger Mächtigen."
Wer toleriert, duldet, und er bestimmt von sich aus, was und wie lange
er es duldet.
Deshalb muss Toleranz in Anerkennung münden, wie schon Goethe es
sehr treffend gesagt hat:
"Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung
sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heisst beleidigen.
Die wahre Liberalität ist Anerkennung."
So wie keine Religion sich als die alleinseligmachende bezeichnen kann,
so kann es keine Kultur geben, die für die anderen massgebend sein
könnte.

Statt Differenzempfindlichkeit
verlangt Hans Saner deshalb Differenzverträglichkeit und bezeichnet
diese als unabdingbare Tugend der Multikulturalität. Werden wir am
Ende aber nicht erdrückt, wenn wir anderen Kulturen so selbstverständlich
Raum geben? Der Gedanke der Partnerschaft liesse eine solche Entwicklung
nicht zu. Es ist klar und in unserem Verfassungsrecht unmissverständlich
verankert, dass die Wahrnehmung jedes Grundrechts dort ihre Grenze findet,
wo sie andere in der Wahrnehmung ihrer Grundrechte beeinträchtigt.
Wir haben allerdings die Tendenz, auf das, was uns zunächst fremd
ist, befremdet zu reagieren, und wir sind sehr kreativ, wenn es darum
geht, Abwehrstrategien zu entwickeln. Abwehrstrategien brauchen aber sehr
viel Kraft und Aufwand und sind letztlich steril, denn sie bringen nichts,
sondern erzeugen vor allem Frustrationen, und zwar auf beiden Seiten.
Statt Abwehrstrategien sollten wir viel mehr wache Neugier entwickeln
und versuchen, auf Menschen anderer Kulturen zuzugehen, andere Kulturen
besser kennen zu lernen und so die Welt in gewisser Hinsicht neu zu entdecken.
Die Sprache, das Mittel
der Kommunikation par excellence, zeigt uns, wie selbstverständlich
benachbarte Kulturen ihr Wissen, ihre Kenntnisse, Fertigkeiten und Techniken
austauschen. Das Wissen liegt in den Wörtern, und wenn wir den Wortschatz
unserer Sprache anschauen, so sehen wir, dass die Sprache selbst ein eigentliches
Begegnungszentrum, ein Fest verschiedener Kulturen ist. Denken Sie - da
wir ja ein Haus bauen wollen - ans Bauen. Einen schönen Teil der
Bautechnik haben wir von den Römern übernommen, und das scheint
heute in der Sprache auf: Mauer stammt von murus, Fenster von fenestra,
Keller von cellarium. Der Tonziegel ist als tegula in unsere Sprache gekommen.
Nur die Lautverschiebung hat ihn verändert, sodass er zu Ziagal und
schliesslich zu Ziegel wurde. Aber wer würde denken, dass der urdeutsche
Tisch ursprünglich gar nicht ein deutsches Wort ist, sondern ein
griechisches. Als nämlich die Römer auf die Germanen stiessen,
sahen sie, dass diese als Tisch eine Scheibe eines Baumstamms verwendeten.
Für Scheibe in diesem Sinn hatten sie bereits das ursprünglich
griechische Wort discus. Daraus ist im Deutschen disks und schliesslich
Tisch entstanden. - Sprachen sind beredte Zeugnisse dafür, dass wir
in der Begegnung, im Austausch mit Anderen reicher werden.
Wenn Respekt und Partnerschaft
das kulturelle und religiöse Leben in unserem Land prägen sollen,
dann müssen Bund und Kantone die dafür notwendigen Rahmenbedingungen
schaffen. Das setzt zuallererst voraus, dass wir die Realität nehmen,
so wie sie ist.
Wovon reden wir zum Beispiel, wenn wir in unserer Verfassung von der kulturellen
Vielfalt des Landes reden? Ich glaube, es ist Zeit, dass wir beginnen,
darunter nicht nur die Kulturen unserer vier Landessprachen zu verstehen.
Unsere ausländische Wohnbevölkerung lässt sich so wenig
wie das Matterhorn aus unserem Land wegdenken. Wir sind auf sie angewiesen,
so wie sie auf uns. Es ist deshalb wichtig, sie als wesentlichen Teil
der Vielfalt zu verstehen, die der Staat pflegt und fördert. Wenn
wir gute Partner wollen, müssen wir ihnen die Möglichkeit geben,
sich selbst zu sein.
Das Verhältnis
zwischen Staat und Religionsgemeinschaften ist in seiner rechtlichen Ausgestaltung
von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich. Es reicht von der Anerkennung,
die darin gipfelt, dass der Staat sogar Kirchensteuern eintreibt, bis
zur knappen Duldung. So sind bestimmte Religionsgemeinschaften immer noch
gezwungen, ihre religiösen Feiern im völligen Abseits in alten
Industrieräumlichkeiten zu begehen. Denken wir daran, dass die Gemeinschaften
der Muslime mit über 300'000 Personen, darunter 40'000 Schweizer
und Schweizerinnen, als Religionsgemeinschaften praktisch nicht sichtbar
sind. Solche Zustände müssen wir verändern. Das geht nicht
mit Paukenschlag und Gesetz, vielmehr müssen wir uns auf einen langen,
in kleine Schritte unterteilten Weg machen. Dabei müssen wir uns
von unseren Vorurteilen befreien und einem klugen Pragmatismus Raum geben.
"C'est les bons
comptes qui font les bons amis."
Dieser Satz lässt sich auch umgekehrt lesen: Geht die Rechnung nicht
für alle Beteiligten auf, so werden aus Freunden Feinde. Wie richtig
diese Behauptung ist, hat uns die Geschichte nur allzu oft drastisch vorgeführt.
Missachtung vitaler legitimer Interessen einer Gemeinschaft führt
zu Demütigung und tiefer Frustration. Das aber ist der Boden, auf
dem Feindschaft und Hass gedeihen.
Hier setzt das Haus der Religionen ein wunderbares Gegenzeichen.
Es schafft fruchtbare Nachbarschaft und gibt die Möglichkeit, sich
gegenseitig zu entdecken. Es ist unmittelbarer Ausdruck für Respekt
und Partnerschaft, und es ist ein Ort, an dem Pragmatismus zum Wohl des
ganzen Landes geübt werden kann. Es ist eine Investition in die Zukunft.
Ich wünsche dem Haus, dass die Bevölkerung erkennt, welch grosses
und gutes Potenzial in seiner Idee liegt. Ich hoffe, dass es bald Wirklichkeit
wird und wesentlich zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes beitragen
kann.
2.Teil
Gegenseitiges Vertrauen
und Friede lassen sich nicht anordnen. Sie wachsen langsam, von unten
nach oben. Niemandem würde es einfallen, ein Haus im zweiten Stock
zu beginnen. Ich bin deshalb sehr froh, dass dieses Fest in einer Schule
stattfindet, denn hier beginnt die Aufbauarbeit. Noch schöner finde
ich, dass sich zwei Schulklassen ganz hervorragend für die gute Sache
eingesetzt haben.
Die eine Klasse -
sie ist leider gerade nicht da, sondern noch in der Landschulwoche - hat
intensiv an der Friedensmauer mitgewirkt, hat unzählige Briefe verschickt,
um Texte für die Mauer zu gewinnen, und schliesslich haben sich kleine
Gruppen aufgemacht, um die Texte direkt bei den Leuten abzuholen. Die
Mauer ist von diesem Engagement geprägt und könnte schon heute
viele Geschichten erzählen, die beim Sammeln der Texte entstanden
sind. Wie arm wäre sie, wenn statt Schülerinnen und Schüler
irgend eine entsprechende Firma diese Arbeit in kühler Professionalität
gegen Entgelt geleistet hätte.
Die andere Klasse,
in der 21 Schülerinnen und Schüler aus 16 verschiedenen Nationen
sind, hat gezeigt, wie Multikulturalität in der Schule, die man oft
als Nachteil beklagt, zur Chance werden kann. Sie hat nämlich ein
multikulturelles Kochbuch geschaffen, und zwar von A-Z. Die Schülerinnen
und Schüler haben zu Hause nach Rezepten gefragt, sie haben diese
in deutscher Sprache formuliert, haben das Buch künstlerisch gestaltet
und ihm ein küchentaugliches Kleid verpasst, das selbst die anfängliche
Ungeschicktheit eines Ehemanns überlebt, der die Zeichen der Zeit
erkennt und sich ans Kochen wagt. Schauen Sie in das Buch hinein, und
Sie werden sehen, dass Kochen selbst auch ein Fest der Kulturen ist.
Das Engagement, das diese beiden Klassen und ihre Lehrerinnen und Lehrer
gezeigt haben, kann nicht hoch genug geschätzt werden, und es ist
mir ein Anliegen, meine Bewunderung und Anerkennung direkt zum Ausdruck
zu bringen.
Ich lade deshalb die
beiden Klassen herzlich zu einem schönen Sommerabend in meinem Garten
ein. Wir werden gemeinsam ein Gericht aus eben diesem Kochbuch zubereiten,
wir tauschen unsere Erfahrungen aus, lernen uns persönlich kennen
und werden gemeinsam das gute Gefühl geniessen, das sich immer einstellt,
wenn man zusammen am gleichen Strick zieht.
Ich freue mich auf euch!
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